Traueransprache
über
Jes 40, 31
für
Tobias Carl
06.08.22 ev. Gemeindehaus Gusterath
die aber auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.
Tobias liebte die Tiere. Greifvögel, die sich in ihrer Freiheit aufschwingen, waren für ihn einerseits reine Freude beim Beobachten, andererseits eine bedeutsame Metapher. Sind sie doch Ausdruck uneingeschränkter Beweglichkeit. An ihrem Bild maß er alles, was nach unten zog. Der beflügelte Adler blieb ihm Programm für Erhabenheit allen Einschränkungen zum Trotz.
Noch deutlicher wird die Bedeutung der Tiere für Tobias an seiner Zuneigung zum Kater Carlo. Diese Katze war ein Tier, das ihm unbedingt vertraute, mit ihm in den gläsernen Aufzug stieg und ihm unbedingt folgte. Das er darum umgekehrt seinerseits als einen wahren Freund bezeichnete. Das war es, was für ihn zählte: Freundschaft!
Von allen, die Tobias Verhältnis zu Carlo kannten, wurde das Tier ein Psychotherapeut auf vier Pfoten genannt.
Denn Tiere sind ohne falsch. Sie sind vorsichtig, oder sie vertrauen unbedingt. Und auf jeden Fall sind sie nicht gemein.
Das war etwas, das Tobias an Carlo so schätzte. Denn seit der Pubertät hat er von Menschen viele Gemeinheiten einstecken müssen. Sie und die körperlichen Schmerzen haben ihn sich zurückziehen lassen, haben ihm die äußeren Schwingen gestutzt. Beginnend beim Mobbing in der Schule, über die fehlende Sensibilität bei späteren Kolleginnen und Kollegen, der beleidigenden Fehleinschätzung seines guten Willens einerseits und seiner körperlichen Leistungsfähigkeit andererseits, den herabmindernden Beurteilungen, den vielen Ablehnungen seiner Bewerbungen in den drei Jahren zwischen 2001 und dem Beginn des Lebens im Rollstuhl 2004, könnte man von Schuld etlicher Mitmenschen und ehemaligen Vorgesetzen im Blick auf Tobias psychische Blessuren sprechen.
Doch wir sind heute in diesem Kreis zusammen und tun dies gerade nicht, weil in dieser Hinsicht Tobias sich tatsächlich über all diese Fehlleistungen erhoben hat. Er hat nach einem Weg gesucht, wie er wieder frei werden kann, frei von allen Einschränkungen körperlicher wie psychischer Art. So schwer es uns fällt, wir sollen ihm diese Befreiung gönnen. Das (!) hat Tobias selbst so vorgesehen, denn er ist nicht in eine Opferrolle ausgewichen sondern hat in souveränem Willen entschieden.
Wir sind hier, weil wir zunächst mit dieser Entscheidung leben müssen, dann aber auch wollen.
Der Weg von Tobias war zwar in der Vergangenheit belastet durch menschliches Unverständnis über mehr als 20 Jahre hinweg, er ist geprägt durch die Muskeldystrophie FSHD, durch die zunehmenden Schmerzen und Einschränkungen. Aber es ist ein Weg, den er letztlich als seinen angenommen hat und den er auf seine Weise zu Ende gegangen ist. Woher kam die zufließende Kraft, die weiter laufen ließ ohne matt zu werden? Wo war der Zuspruch, der neu aufgebaut hat?
Sie wissen es. Zwei mal schon hatte Tobias seinem Leidensweg ein Ende setzen wollen. Und beide mal gab es Ermutigung, die ihn hat weiter leben lassen.
Alle Beteiligten hat das viel Kraft gekostet. Tage und Nächte der Gespräche wurden von ihm aber als Zuwendung, als Liebe, als Eingebundensein in ein familiäres Ganzes mit gegenseitiger Verantwortung füreinander erkannt und haben ihn weiterlaufen lassen, schließlich sich weiterschleppen lassen.
Es ist also heute tatsächlich von einer sich mausernden Emanzipation die Rede, an deren Ende eine zu akzeptierende Entscheidung steht.
Auf diesem Weg zu sich selbst, hat Tobias der Blick auf wunderbare Kinder- und Jugendjahre aufgebaut. Er verstand es, von einer gelungenen Kindheit zu zehren. Wie reich waren die Erinnerungen an die Ferien in der Schulzeit!
Mit zehn Jahren hat er mit seiner Familie in Frankreich gezeltet. Immer wieder hat er diese Zeit beschworen. Die Tage auf der Ile de Re gehören sicher zu den glücklichsten in seinem Leben. Gefolgt von den Einsichten, die er auf den britischen Inseln gewann, wie nämlich alles miteinander verbunden ist, wie Entbehrung und Sehnsucht sich reimen, wie aus Kelten Europäer wurden, wie aber auch Werden und Vergehen verstanden werden können als Prozess, in dem Nichts verloren geht. Das hat seinen Glauben geprägt, seine Haltung bestimmt.
Denn hing nicht auch ein Bild des Gekreuzigten in seinem Fahrstuhl? Und verstand er es nicht, beim Blick auf ihn, selbst manche Last noch zu schultern? Denn er kannte den Glauben, dass Gott uns nicht schwerere Lasten auflegt, als wir auch zu tragen vermögen – das nämlich ist eine Anschauung, die Tobias aus dem Mund seines oft Vaters vernommen hatte.
Tobias war ein intelligenter Mensch.
Mit dem Sprechen wartete er als Kleinkind, bis er die ganze Grammatik gespeichert hatte, dann, mit dreieinhalb, begann er unerwartet in ganzen Sätzen zu sprechen.
Schon in der Grundschule in Trier-Nord erkannte er angesichts auf dem Schulhof angedrohter Prügel mit seiner hohen sozialen Intelligenz, dass auf das „Wei git dat Schuri“ mit entwaffnender Selbstverständlichkeit mit „Mei Papp is Hilfskoch“ zu antworten war.
Noch früher war seine Lust an eigenen souveränen Wegen 1982 in Bulgarien abzulesen, als er einen Ort hinter Blumenkübeln im Speisesaal fand, von dem aus das Leben der anderen gut zu beobachten war und wie aufgeregt sie auf sein Verschwinden alle reagierten. Zwei Stunden soll er es so mit seinen Betrachtungen ausgehalten haben.
In den Folgejahren wuchs seine Lust an Kommunikation. Früh erkannte er, dass Menschen an Urlaubsorten andere Sprachen sprachen und dass man sich folglich mit Zeichen zu verständigen habe, um am Brötchen oder der Limonade des Nachbarn teilhaben zu können.
Im Blick auf andere Kinder und deren Bedürfnisse entwickelte Tobias eine Empathie, die er bis ins Erwachsenenalter behielt. Er bot seine Hilfe sozialen Einrichtungen an, die sich Kindern widmeten. Er machte ein Praktikum im Kindergarten und wurde Mitglied von Lebenshilfe, Club aktiv und im Tobias-Haus.
Sein Sinn für Gerechtigkeit wird von der stets aufrecht erhaltenen Mitgliedschaft bei ver.di abgebildet.
Die nüchterne Erkenntnis, wie etwas am effizientesten zu erreichen oder auszudrücken sei, begabte ihn später mit seiner sachlichen Ausdrucksweise. Er verstand es, philosophische, soziologische Sachverhalte in aller kürze auf den Punkt zu bringen.
War in den ersten beiden Lebensjahrzehnten sein Humor ihm ein zuverlässiger Begleiter, so verlernte er das Lachen mit zunehmender körperlicher und seelischer Belastung. Wieder brachte er seine Wahrnehmung von Welt und selbst auf den Punkt: „Es gibt zu viele Probleme auf der Welt“ und kündigte an „ich mache mich davon“. Diese Phase war eine des inneren Rückzuges, die Emotionen kaum noch zuließ. Scheinbar war er hart und abstrakt geworden.
Seine endgültige Entscheidung aber, dass dieses irdische Leben ein Ziel haben darf, hat seinen Horizont noch einmal geweitet! Im Bewusstsein, dass die Schmerzen ein Ende haben werden, konnte er die Reife regieren lassen, zu der er im Inneren und von außen oft unbemerkt über die Jahre gewachsen war. Er sah ganz seine Familie, die Eltern, sah seinen Vater und meldete ihm zurück, was er, Tobias, sah, wie der Vater sich hielt, bzw. seiner Meinung halten sollte, ja welche Haltung Sie, die Familie, grundsätzlich zu ihm und seiner Entscheidung einnehmen solle.
Da war einerseits seit langem diese Sehnsucht nach Schottland. Ebenfalls eine Metapher. Eine Inschrift auf einem keltischen Kreuz hatte es ihm angetan: „My heart is in the Highlands – my heart is not here“. Dieses Wort war ihm Programm. Weg von hier, raus aus der Hülle der Einschränkungen, der Vorläufigkeiten – dorthin, wo alle Sehnsucht gestillt werden kann. Ein Sein von dem Jesus nicht müde wurde in seinen Bildreden der Wahrhaftigkeit zu predigenm. Die Erde und das Miteinander so, wie sie um Gottes Willen sein soll. Gelingende Beziehung. Himmel, liebe Gemeinde, ist kein Ort. Sondern der Verweis auf eine Art des Seins, den die Engländer mit heaven gegenüber von sky besser auszudrücken verstehen als wir im missverständlichen Deutschen.
Und dann war da andererseits seine Bitte: „Lasst mich gehen – sonst kann ich nicht sterben.“ Das bedeutet weit mehr als das bittere Akzeptierenmüssen seines Willens. Diesen Schritt sind Sie ja bereits gegangen.
Er hat vorausgesetzt, dass dies gelingt!
Denn er wusste sich eingebunden in die familiäre Liebe. Darauf konnte er sich nach all den Jahren der Pflege, den wochenlangen nächtlichen Gesprächen, der erhaltenen Zuwendung im wahrsten Sinne des Wortes ver-lassen.
Wir alle wissen im Herzen, dass dies heißt „Wer liebt – kann lassen“.
Doch die Dimension dieser Bitte ist noch größer, sie reicht in die Zukunft. „Lasst mich gehen!“ Das ist, liebe Familie Carl, sein Vermächtnis.
Es dauert, aber es wird gelingen.
Eingangs schien das Wort aus dem Prophetenbuch Jesaja ein Hoffnungsbild aus dem Herzen von Tobias für ihn selbst zu sein – doch jetzt verstehen wir, dass es ein Zuspruch für Ihren Weg ist, den, den Sie vor sich haben:
die aber auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.
Denn genau so soll es für Sie wahr werden. Und Tobias beobachtet es wie in Bulgarien 1982 souverän von seinem Ort aus, der aber heute im Lande Gottes liegt. Er verlässt sich darauf, dass es Ihnen gelingen wird. Amen